Über die Wahrheit

Über die Wahrheit

Liebe Leser,

haben Sie sich schon Mal gefragt, ob das, was Sie wahrnehmen auch wahr ist? Sind Sie bei manchen Nachrichten nicht auch schon stutzig geworden und haben Sie sich gefragt, ob das jetzt wirklich die Wahrheit ist, was Ihnen da aufgetischt wird? Die Frage danach, was wahr ist und was man unter dem Begriff Wahrheit verstehen kann, ist das Thema dieses Beitrags sein.

Eines kann ich aber schon vorwegnehmen: Bei der Vorbereitung auf diesen Beitrag hat sich gezeigt, dass es ziemlich schwierig ist, eine Wahrheit über die Wahrheit zu finden. Wie im praktischen Leben gibt es auch in der Philosophie mehrere Wahrheiten. Auch über die Wahrheit selbst. Ich will versuchen, Ihnen einige Gedanken zu diesem zentralen Problem des Lebens und der Philosophie darzustellen.

Also, was ist die Wahrheit überhaupt, und warum gibt es offensichtlich verschiedene Wahrheiten?

Ich will bei uns selbst als Individuum anfangen: das Verstehen und Erleben der Welt und die Wahrheit, wie wir sie erfahren, ist stark beeinflusst von

  • der Herkunft,
  • den kulturellen Einflüssen,
  • der Erziehung und
  • den moralischen Grundsätzen eines jeden von uns.

Unser Weltbild und unsere Werte sind, ob wir es wollen oder nicht, von einem christlich-abendländisch-westlichen Wertekanon geprägt, nachdem sich auch unsere moralischen Grundsätze richten. Die kulturellen Einflüsse auf uns, die wir alle dem gleichen Kulturkreis entstammen, sind in vielen Punkten ähnlich, aber je nach Interessenlage des einzelnen gewiss nicht gleich. Bei unserer Erziehung wird es dann schon sehr individuell. Das Verstehen der Welt und das Fürwahrhalten des Einzelnen sind also sehr individuell und so findet jeder von uns auch seine eigene, subjektive Wahrheit über die Dinge, die uns umgeben und die uns passieren. Dabei sind Täuschungen und Fehleinschätzungen nicht ausgeschlossen, da wir uns nie auf die 100-prozentige Funktionalität unserer Sinneseindrücke verlassen können. Meine Augen zum Beispiel funktionieren nicht mehr zu 100 %. Auf welchen Wegen kann man denn nun aber von dieser subjektiven Wahrnehmung zu einer, ich nenne sie mal objektiven Wahrheit kommen, die für alle oder zumindest eine große Gruppe gilt?

Angefangen bei Aristoteles haben sich im Laufe der Jahrhunderte und durch die Gedanken einer Vielzahl von Philosophen mehrere Ansätze zur Definition der Wahrheit gebildet. Ich will einmal fünf nennen und mit einem Beispiel versehen:

  1. Die Korrespondenztheorie, bei der Wahrheit ist, wenn Gedanken oder Aussagen täuschungsfrei mit dem übereinstimmen, also korrespondieren, was tatsächlich vorhanden oder passiert ist. Z. B. sage ich, der Teppich hier ist rot, und da er tatsächlich rot ist, habe ich die Wahrheit gesagt.
  1. Die Konsenstheorie, bei der Wahrheit ist, wenn die Meinungen zu einer Aussage übereinstimmen, also z. B. eine Aussage von anerkannten und gut informierten Wissenschaftlern akzeptiert wird. Wichtig ist, dass man allein durch Argumente einen allgemeinen Konsens herstellt, der dann allgemeingültig und dauerhaft ist. Beispielsweise sind der empirische Satz „Rauchen erhöht das Lungenkrebsrisiko“ und der analytische Satz „Alle Junggesellen sind unverheiratet“ wahr im Sinne der Konsenstheorie.
  1. Die Evidenztheorie, bei der alles wahr ist, was dem Intellekt sofort und ohne weiteres einleuchtet. Als Beispiel dient hier der berühmte Satz: Ich denke, also bin ich. Oder „Die Sonne geht unter“.
  1. Die Kohärenztheorie, bei der eine Aussage dann wahr ist, wenn sie sich widerspruchsfrei in eine Reihe vergleichbarer Aussagen einordnen lässt. Die Aussage „Die Erde dreht sich um die Sonne“ ist wahr, wenn man sie in alle anderen Aussagen des heliozentrischen Weltbildes von Kopernikus einordnet. Wichtig ist hierbei das gewählte Bezugssystem, in das ein Satz eingeordnet wird.
  1. Die Pragmatische Theorie, für mich die interessanteste, bei der eine Aussage oder ein Satz wahr ist, wenn er nützlich ist, d. h. wenn unser Verhalten als Resultat eines Satzes nützliche Ergebnisse bringt. Für mich als Naturwissenschaftler bedeutet das, dass eine Theorie gilt, solange sie mir nützt und für mich brauchbare Ergebnisse liefert und solange sie nicht widerlegt ist. Was funktioniert, gilt als wahr.

Manch einer mag sich jetzt denken: Oha, fünf Theorien zur Wahrheit? Dazu sage ich nur: es gibt noch viele mehr. Was sie alle gemein haben ist übrigens, dass es kein allgemeines Kriterium für die Wahrheit gibt, das für alle Erkenntnisse ohne Unterschied ihrer Gegenstände gültig wäre. Der Begriff Wahrheit kann also aus mehreren Richtungen betrachtet werden und es kommt auf die Situation an, nach welchem Modell der Wahrheit man sich ohne weiter darüber nachzudenken richtet. Die Wahrheit ist niemals eine Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern entsteht immer erst aus unserem Urteil darüber. Denn darüber, ob wir etwas für wahr halten entscheidet ja in erster Linie mal unser Gefühl und Urteilsvermögen. Ich jedenfalls habe mich noch nie damit beschäftigt, welcher Wahrheitstheorie ein Satz oder eine Aussage genügt, die ich für wahr halte. Vielleicht werde ich es nach diesem Beitrag ab und zu tun.

Die Wahrheit zu erkennen und nun vielleicht eine Idee davon zu haben, nach welcher Theorie man die Wahrheit erkannt hat, ist aber nur ein Aspekt über den ich heute schreiben möchte.

Eine eher praktische Frage in unserem Leben ist ja nicht nur, was die Wahrheit ist, sondern wie man Sie herausbekommt. Konfuzius sagte dazu folgendes:

Die Wahrheit haben ist des Himmels Weg, die Wahrheit suchen ist der Weg des Menschen.

Können wir die Wahrheit also überhaupt und völlig herausfinden oder machen wir uns immer nur auf den Weg zur Wahrheit und versuchen ihr so nah wie möglich zu kommen? Ich kann dem Spruch von Konfuzius in Anbetracht unserer subjektiven Wahrnehmung viel abgewinnen. Um der Wahrheit nah zu kommen, gibt es durchaus kreative Ansätze, wie Privatdetektive, Gerichtsmediziner, Wahrheitsdrogen oder Folter. Naja, zumindest dann, wenn man gemäß der fünf vorgestellten Theorien seinen Sinnen nicht traut, keinen Konsens erzielt, die Wahrheit sich unserem Intellekt nicht direkt und von sich aus erschlossen hat, oder die gefundene vermeintliche Wahrheit keinen praktischen Nutzen für uns hat.

Zum Schluss will ich noch mit dem Thema meines Beitrages auf den Pfad der Tugend abbiegen. Eine oder mehrere Vorstellungen von der Wahrheit zu haben und sich immer wieder auf den Weg zur Wahrheit zu machen ist gut. Zum Leben gehört aber auch, die Wahrheit selbst zu leben. Ich erwähnte oben unsere westlich-christlich-abendländischen Werte. Im achten Gebot heißt es:

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Ich halte dies aber nicht nur für ein christliches Gebot. Denn egal, ob jemand gläubig ist oder nicht, dieses Gebot ist einer der höchsten moralischen Leitlinien, die es in unserer Gesellschaft gibt: man soll die Wahrheit sagen, ehrlich sein und nicht lügen.

Unbestritten ist es eine hohe Kunst, Wahrheit zu leben und ein aufrichtiger Mensch zu sein. Es sollte zwar niemandem schwer fallen, sich nicht korrumpieren und bestechen zu lassen und ein ehrbarer Geschäftsmann zu sein. Ich behaupte aber, dass es selbst einem allgemein für ehrlich gehaltenen Menschen schwer fallen dürfte, stets und ständig die Wahrheit zu sagen und nicht in der ein oder anderen Situation die Wahrheit zu verschweigen oder aus taktischen Überlegungen eine kleine Notlüge anzuwenden. Denn wer von uns hat nicht schon auf die Frage, wie es einem geht, einfach mit „gut“ geantwortet, obwohl es einem nicht gut ging. Es ist eine Situation, in der wir aus Taktgefühl die Wahrheit für uns behalten haben und um unser Gegenüber nicht unverhofft mit der harten und zuweilen brutalen Wahrheit zu konfrontieren. Denn nicht nur Wahrheit ist eine Tugend, sondern auch Taktgefühl und Verschwiegenheit. Man zeigt damit nicht nur Respekt gegenüber den Gefühlen anderer. In manchen Situation verschafft man sich so auch einen taktischen, in diesem Sinne aber nicht hinterlistigen Vorteil, wenn man eine Wahrheit zurückhält, freilich ohne dabei die Tatsachen zu verdrehen. Wahrheit zu leben heißt also, ehrlich, ehrbar und aufrichtig zu sein, aber nicht, die Wahrheit immer und in jeder Situation auch auszusprechen, so wahrheitsliebend man auch sein mag.

Das eben Geschriebene über die Wahrheit, die Werte und Tugenden und all dies zu leben, fasst der Leitspruch meiner früheren Schule sehr gut zusammen. Er wird mir im Leben immer bedeutsamer, er stammt vom Schriftsteller Ernst-Moritz Arndt und mit ihm möchte ich meinen Beitrag schließen:

Sei Mensch und Mann, sei wahr und treu, steh fest, so steht die Welt dir fest.

 

(verfasst von P. S.)

 

Quellen und weiterführende Artikel:

Online-Wörterbuch Philosophie – Stichwort Wahrheit

3sat Mediathek – Philosophisches Kopfkino – Was ist eigentlich Wahrheit

dt. Wikipedia – Stichwort Wahrheit

Bildquelle:

Busto di Aristotele conservato a Palazzo Altemps, Roma. Foto di Giovanni Dall’Orto