Bewusstsein
„Bewusstsein ist im weitesten Sinne die erlebbare Existenz mentaler Zustände und Prozesse. Eine allgemein gültige Definition des Begriffes ist aufgrund seines unterschiedlichen Gebrauchs mit verschiedenen Bedeutungen schwer möglich.“ So schreibt die Internet-Enzyklopädie Wikipedia. Die unterschiedlichsten Analysen sollen hier nicht Gegenstand der Betrachtungen sein.
Kein normaler Mensch wird die Meinung vertreten, dass das Bewusstsein (Bewusst-Sein) eines Kindes, eines Jugendlichen, eines Menschen im reifen Alter und eines Greises ein Gleiches ist. Kein normaler Mensch würde die Behauptung vertreten können, dass das Bewusstsein einer Frau und eines Mannes gleich ist. Seltsamerweise unterstellen wir jedoch, dass das Bewusstsein des Menschen im alten Griechenland und das Bewusstsein in der heutigen Zeit gleich sind. Damit unterstellen wir gleichzeitig, dass das Bewusstsein zur Zeit Christi Geburt und zur Zeit des Mysteriums von Golgatha, dass das Bewusstsein im Mittelalter, das Bewusstsein in der Kolonialisierung Mittel- und Südamerikas und Afrikas, der Zeit des Sklavenhandels, des 30jährigen Krieges in Europa, der beiden Weltkriege und das Bewusstsein im 20. Jahrhundert mit ihren Ideologien gleich gewesen ist.
Dieses führt dazu, dass wir sämtliche historischen Ereignisse im Bewusstsein der Selbstgerechtigkeit eines heutigen „Mainstreams“ bewerten.
Dass dieses dazu beiträgt, dass wir die vor uns gelebten Generationen loben oder verurteilen, liegt auf der Hand. Dass dieses ebenfalls dazu führt, dass wir ganze Zeitabschnitte, ganze Völker mit ihren Führern, mit positiven oder negativen Wertungen belegen, wird keiner ernsthaft absprechen können.
Dass sich das Bewusstsein des Menschen verändert, ist eine alte, in den Mysterienbünden verankerte Einsicht; jedoch ist sie nicht im Massenbewusstsein präsent.
„Erkenne Dich selbst“, ermahnt der Meister vom Stuhl den Kandidaten in dem Ritual der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland auf der letzten, der Dritten der mystischen Reisen. Dass die Lichterteilung in den amerikanischen und den schottischen Lehrarten der Freimaurerei mit der Genesis verbunden ist, schmälert das Prinzip dieser herausragenden Symbolik des „Erkenne Dich selbst“ keineswegs; im Gegenteil: Wir haben es hier im Kern mit einer Ergänzung zu tun, vielleicht um etwas sich gegenseitig Bedingendes?
„Oh Mensch, erkenne Dich selbst“, ist der Mahnspruch, der uns Menschen seit Delphi entgegen klingt. Diese gewaltige Aufforderung ermahnt den Menschen, sich mit seiner tiefsten seelischen Wesenheit und seiner Weltbedeutung in der Schöpfung bekannt zu machen.
Wenn solch eine gewaltige Aufforderung an die Menschheit ergeht, eine Aufforderung, der wir uns bis heute in den Mysterienbünden stellen, so deutet dieses auf ein sich verstärkendes Defizit hin, auf eine Entwicklung im Verlust vorhandenen, quasi bisher als selbstverständlich wahrgenommenen Wissens.
Ein solcher Weg, das „verlorene Meisterwort“ wiederzufinden, ist ein Weg der Arbeit. „Der Weg, der vor Dir liegt, ist steinig und rau. Heimtückische, gewalttätige Schurken werden Dir auflauern und nach dem Leben trachten. Bist Du bereit, einen solchen Weg zu gehen?“, fragt der Meister vom Stuhl den Kandidaten bei der Initiation zum Meister. Hier wird deutlich, dass der Freimaurer einen besonderen Weg vor sich hat.
Hätten wir vor der „Abenddämmerung der Erkenntnisfähigkeit“, als wir noch „Hochmittag“ hatten, eine Ermahnung zur Selbst- und Gotteserkenntnis vernommen, hätten wir Menschen kopfschüttelnd angemerkt: Wozu diese Anstrengung?
Was durchwebt alles Leben und alle Materie? Der Geist GOTTES ist es, wie jeder weiß. In früher Zeit empfand sich der Mensch in seinem „Ich“ wie selbstverständlich als das Abbild des göttlichen Geistes, der in ihm wirkte. Mit diesem „Ich“ empfand sich der Mensch gleichzeitig als Teil der Zentralkräfte.
Hatte doch schon Hermes Trismegistos bestätigt: „Alles ist GEIST. Die Quelle des LEBENS ist unendlicher SCHÖPFERGEIST. Die SCHÖPFUNG ist mental. GEIST herrscht über Materie. Jede Ursache hat eine Wirkung – jede Wirkung hat eine Ursache. Jede Aktion erzeugt eine bestimmte Energie, die mit gleicher Intensität zum Ausgangspunkt, also zum Erzeuger zurückkehrt. Wie oben – so unten, wie unten – so oben. Wie innen – so außen, wie außen – so innen. Wie im Großen – so im Kleinen. …“
Wer hätte also die Frage aufwerfen wollen, was als Bewusstsein in den Pflanzen und Tieren wirkt, in den Jahreszeiten, im Wetter, im Klima, in der Ebbe und der Flut, in dem Ausbruch eines Vulkans, überhaupt in allem, was in der Schöpfung passiert und wirkt?
Das menschliche Bewusstsein entwickelte sich – wie wir wissen – anders. Es hat sich mehr und mehr von GOTT entfernt. Der Mensch hat sein Selbstbewusstsein im Gottesbewusstsein zurückgezogen. Er fing an zu zweifeln. Die Konsequenz war, dass er Wissen durch Glauben ersetzen musste. Er brauchte schließlich das Dogma, um überhaupt noch einen Anker zu haben.
Diese Entwicklung ist im Kern das, was wir unter der Vertreibung aus dem Paradies verstehen können, und das was das Christentum unter dem Sündenfall versteht, jenes, das uns als Erbsünde überkommen ist. Der Mensch muss sich wieder einer geistigen Anstrengung stellen, um aus dieser, man kann mit Kant auch sagen, selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszukommen.
Die Tendenz des Abnehmens dieses Bewusstseins der Fähigkeit, durch Selbsterkenntnis zur Gotteserkenntnis zu gelangen, führte konsequenterweise dazu, das die Mysterien den wahrhaft Suchenden die Möglichkeiten eröffnen mussten, mittels Initiationen wieder zu höheren Bewusstseinsebenen vorstoßen zu können, d.h. wieder zu den Quellen zu gelangen.
Im wahrsten Sinne der Aufforderung GOTTES war der Mensch damit verurteilt worden, im Schweiße seines Angesichts zu arbeiten.
Diese Aufforderung, über das „Oh Mensch, erkenne Dich selbst“ zur Gotteserkenntnis zu gelangen, kam von jenen Priesterkasten und Philosophen, die noch über die Möglichkeiten und Techniken der Initiation verfügten, jene, die uns in der Freimaurerei überkommen sind. Diese Mysten gaben dem würdigen und gereinigten Geist eines Suchenden die Chance, in der „Menschenerkenntnis“, d.h. damit einer erwarteten Bewusstseinsveränderung, Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis zu suchen und zu finden.
Dieser Weg eines Adepten ist der Weg, den ein Suchender auch im Bund der Freimaurer gehen kann (m. E. sollte), jener Weg, der sich mit der Änderung des Sinns erfüllt.
„Ändere Deinen Sinn“, ruft uns unser Schutzpatron Johannes der Täufer zu. Dass hierfür Anlagen und Voraussetzungen in dem Suchenden vorhanden sein müssen, liegt auf der Hand. Diese Grundannahmen der Bereitschaft zum Arbeiten und zur Sinnesänderung lassen auch verstehen, wenn ich an dieser Stelle betone, dass der Bund der Freimaurer dem neu Aufgenommenen ein Instrument an die Hand geben möchte, vom Suchenden zum Findenden zu werden, zum Erkennenden, zum Erfassenden.
Nicht der Weg ist ein Ziel; Erkenntnis ist das Ziel. Die Freimaurerei öffnet eine Tür, durch die der Kandidat jedoch aus eigenem freien Willen und Antrieb gehen muss.
Der neu Initiierte bekommt die Chance, seine seelisch-geistigen Potenziale zu erkennen, zu entwickeln und im Sinne göttlicher Gesetze segensreich zu wirken.
Eine erste Erkenntnis: Das Bewusstsein der Menschheit verändert sich in seiner Geschichte und wird sich immer verändern. Dieses gilt nicht nur für die Lebensalter, Geschlechter und Rassen. Die Ermahnung „Oh Mensch, erkenne Dich selbst“ deutet auf eine Tendenz eher abnehmender als zunehmender menschlicher Selbsterkenntnisfähigkeit in den letzten Jahrtausenden. Hieraus ergibt sich die Ermahnung an den Menschen zur geistigen Arbeit. Ziel ist es, die Erkenntnisfähigkeit zu trainieren.
von K. Oe.
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