„Gedanken eines Suchenden V“

Am Stein
Ein Wanderer sitzt am Mittag unter einer Linde auf einem Friedhof. Gedankenversunken blickt er auf
einen Grabstein. Er weis nicht wer in diesem Grabe liegt, doch scheint es schon sehr alt zu sein. Nur
das Gefühl der Verbundenheit schwebt über ihnen.
Auf dem verwitterten Gestein sind nur noch Konturen der einstigen Behauung zu erkennen. Schwach
schimmern die Umrisse des Bildnisses eines Mannes hervor. Er scheint einen Umhang zu tragen. Auf
der Brust ist ein Schwert gebettet und um ihn sind, kaum noch zu erkennen, Symbole in den Stein
gehauen.
„Nun, da liegst Du.
Weist nicht mehr zu berichten mit Deinen Worten,
doch auf andre Weise bringst Du Kunde.
Verflossen sind die Stunden.
Verflossen ist der Atem.
…
Doch halt, ist es nicht der Wind?
Ist er es nicht, der Dein Atem ist?
Er ist es. Ich glaube es!
Und ist es nicht die Mittagssonne, die Dein Licht trägt?
Auch dies glaube ich!
…
Wie mag Deine Zeit gewesen sein,
als in Deiner Brust das Herz noch schlug?
Wusstest Du die Zeit recht zu nutzen?
…
Es treibt die Menschen zur Eile.
Was es ist, lässt sich nicht benennen.
Sie laufen umher wie erschreckte Hühner,
getrieben von einer unsichtbaren Peitsche.
Hetzen sich ab, als gilt es, zuerst am Bug des Bootes zu stehen.
…
Vergeuden Ihre Zeit mit unnützen Dingen.
Jagen nach Neuigkeiten, die weder für Familie, Ernte noch Hütte dienen.
Trachten nach Sachen, die nicht dem Geiste und der Menschlichkeit taugen.
Lassen sich hetzen von Dämonen und Geistern,
… welche unablässig am Verstande nagen.
Und vergessen dabei, dass die Sanduhr unaufhaltsam rinnt!
…
Ach, Ewiger…
ich erahne… den Vierundzwanzigzölligen
… in Deinem Gestein.
Mahnt dieser nicht die Zeit sinnvoll zu gestalten?
Er tut es!
…
Leben und Sterben,
Sterben und Leben.
Beides so nah beieinander.
Hand in Hand gehen sie einher,
die Geschwister der Ewigkeit,
die Kinder der Unendlichkeit.
…
Wird es der Mensch verstehen?
Wird es der Mensch begreifen,
dass die Zeit in dieser Welt nicht unendlich ist?
Dass er streben soll, dass er leben soll?
Lässt er sich treiben, …
so gleicht er doch nur einem toten Fisch im Bache.
Kalt und stinkend wie dieser, treibt er umher.
…
Was ist es, was ihn anmaßen lässt, dass er ewig Zeit hat?
…
Lernt das Leben zu schätzen!
So tut es doch!
Werdet Euch Eurer Endlichkeit in dieser Welt bewusst!
Erkennt den Tod als Teil des Lebens…
und
… schaut ihm aufrecht in die Augen!
…
Strebt es Euch nicht danach am Ende sagen zu können:
Ich habe gelebt!
Ich habe geschaffen!
Ich habe gestrebt!
…
Erkennt auch die Schönheit in den unscheinbaren Dingen,
die Ihr so achtlos konsumiert.
Erkennt das Leben in dem Atemzug,
den Ihr am frühen Morgen im taubedeckten Wald zu Euch nehmt!
Erkennt die Weisheit des Lichtes der Sonne,
welches Euren Leib durchströmt!
Seid dankbar für die Lieder der Vögel,
welche ihr Lied zwitschern in den Bäumen vor den Häusern.
…
Ich sah in das Auge des Todes.
Doch was ich sah, war nicht ein garstiger Abgrund,
war nicht Verdammnis noch Trauer.
Was ich sah…
… war Leben, war Schönheit, war Dankbarkeit!
Und auch wenn der Knochige mir die Hand entgegenstreckte,
um mich zu greifen,
so verflogen die ersten Ängste schnell,
und wischen der Erkenntnis:
Nicht das Ende wollte er mir zeigen!
Was er mir zeigte war das Licht der Welt.
Was er mich lehrte war Vernunft.
…Jede Stunde will Weise genutzt sein!
In jeder Stunde sollen wir spüren, dass wir leben!
In jeder Stunde sollen wir dankbar sein dafür!
In jeder Stunde sollen wir aber auch die Humanität in uns wachhalten!
…
Mensch, sei Weise mit Deiner Zeit!
Nutze sie!
Liebe das Leben und schenke ihm Achtung!
Erkenne die Schönheit in Unscheinbaren!
…
Und auch wenn wir zurückkehren zu den Sternen und Neues entsteht:
Jedes Leben ist wertvoll und jedes Leben will gelebt sein, will genutzt sein.
In den ewigen Osten gehen wir …
und so wie die Sonne jeden Morgen aufersteht
und das Licht aufs Neue in die Welt bringt,
so können auch wir neues Licht bringen
mit jedem Morgen an dem wir erwachen.“
Der Wanderer erhebt sich und kniet zum Fuße des Grabes. Er legt die Hand darauf und schließt die Augen.
„Ich danke Dir mein Bruder!
Und sei gewiss: Virtus Junxit mors non separabit!
Ich muss nun aber weiter arbeiten und meinen Weg gehen.
Es ist noch viel zu tun bis Hochmitternacht.“
Ein Lindenblatt schwebt herab und legt sich auf das Grab.
Für Br. F.
Von A.S.