„Gedanken eines Suchenden VI“

„Gedanken eines Suchenden VI“

Von der Empathie im Humanismus

„Deyr fé,
deyja frændr,
deyr sjalfr it sama,
ek veit einn,
at aldrei deyr:
dómr um dauðan hvern.“

(Hávamál, Stanza 76)

 

Übersetzung:

„Vieh stirbt,
Freunde sterben,
genauso stirbt man selbst.
Aber ich weiß eines,
das niemals stirbt:
Wie das Urteil über jeden Toten lautet.“

(Das Lied des Hohen, Vers 76)

 

Vor nicht allzu langer Zeit wurde ich Zeuge über das Verhalten von einigen Menschen. Es hat
mich zutiefst erschüttert und ich dachte noch eine ganze Weile darüber nach.

Was war passiert? Ich saß in der Straßenbahn, auf dem Weg zu einem Termin. Plötzlich gab
es einen Knall. Ich blickte aus dem Fenster und konnte einen PKW sehen, dessen Front argen
Schaden genommen hat und die Vorderräder lagen flach am Boden. Meine ersten Gedanken
galten dem oder den Menschen im Fahrzeug, ob ihm oder ihnen wohl etwas passiert ist.

Die Straßenbahn hielt und die Fahrerin stieg aus um zum PKW zu eilen. Die Türen der Bahn
hielt sie aus Sicherheitsgründen noch geschlossen. Und dann geschah für mich
Unglaubliches. Da ich an der Türe saß musste ich das alles miterleben.

In der Bahn wurde es unruhig, was soweit normal ist. Jedoch fielen die ersten Kommentare,
die jenseits vom Guten waren. Das waren Worte wie: „Kann die (Straßenbahnfahrerin) nicht
weiterfahren? So schlimm ist das doch nicht!“, „Die soll nicht so einen Aufriss machen!“,
„Lass den (PKW) doch einfach stehen, selber schuld, wenn der zu blöd zum Fahren ist!“. Und
viele weitere böse Worte.

Dann öffnete die Straßenbahnfahrerin die Türen, nachdem sie Sorge getragen hat, dass die
Sicherheit für die Fahrgäste gegeben ist. Sie teilte auch mit, dass noch unklar ist wann die Fahrt weiter geht und dass es noch etwas dauern kann. Sofort wurde sie beschimpft und
angepöbelt. Und das nicht von einzelnen Menschen, sondern gefühlt von jedem Zweiten!

Ein Kollege der Straßenbahnfahrerin kam ihr zur Seite, um sie bei dem Unfall zu
unterstützen. Da ging ein Fahrgast zu den Beiden. Und statt Worten des Mitgefühls oder
einer harmlosen Frage bekamen die Beiden jetzt Worte der Wut zu spüren, weil der
Fahrgast“ … jetzt wegen den Straßenbahnangestellten keinen Urlaub hat!“.

Was geht in den Menschen vor? Es geht bei einem Unfall um Menschen, um Leben, um Leid!

Wie viel Wert ist ein Tag Urlaub im Vergleich zu Leben?

Die Masse der Leute, die aus der Bahn stiegen hatten nicht den Anstand nach der Fahrerin
des PKW zu fragen oder Hilfe anzubieten. Zum Glück gab es keinen Personenschaden und
der Fahrerin ist nichts passiert, zumindest nichts Körperliches. Aber in der Psyche wird der
Schock tief gesessen haben. Und weitere Hilfe war zum Glück nicht notwendig, da sich die
Straßenbahnfahrer sehr um das Wohl und die Sicherheit kümmerten.

Statt nun Hilfe anzubieten, zog fast Jeder! als Erstes das Handy aus der Tasche und machte
Bilder. Ich hatte schon davon gehört, dass Gaffer eine Plage sind und dachte, dass es
Einzelne sind. Jedoch musste ich nun erleben, dass es Schlimmer zu sein scheint als ich
bisher ahnte. Es stiegen auch drei kleine Jungen aus, sie werden nicht älter als 12 Jahre
gewesen sein, die nebeneinander standen und fast schon synchron die Handys zückten um
zu photographieren. In mir kam der Gedanke auf, ob ich aussteigen sollte und fragen ob sie
das auch machen würden, wenn es ihre Eltern betroffen hätte. Aber das schien mir in dem
Augenblick weder angebracht noch zielführend. Zu sehr war ich vom Verhalten der
Menschen geschockt.

Und dann war da noch die junge Frau. Die Türen waren wie bereits geschrieben offen und
die Fahrgäste konnten aussteigen. Doch die junge Frau stand an der offenen! Tür und keifte,
wann man denn endlich aussteigen kann?! Eine ältere Frau kam mir zuvor und erklärte der
jungen Frau dass sie das doch tun könnte, so wie die anderen Menschen um sie herum. Die
Straßenbahnfahrerin hatte eine deutliche Durchsage getätigt, dass sie nicht weiß, wann es
weitergeht und die Fahrgäste zur nächsten Haltestelle gehen können um weiter zu fahren.
Die junge Frau bekam nun die Information noch einmal. Ihre Antwort: „Vielleicht laufe ich
noch zur nächsten Haltestelle?!“. Nebenbei bemerkt: Es handelte sich um eine Strecke von
noch nicht einmal 200 Meter.

 

Ich kann meine Gefühle die ich in diesen Augenblicken durchlebte nur schwer beschreiben.
Es war eine Mischung aus Ungläubigkeit, Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Traurigkeit. Ich
konnte es nicht begreifen.

Was ist mit den Menschen los? Viele von denen, die ich sah, hatten noch nicht einmal
Ansätze einer Mimik des Mitgefühls im Gesicht. Wie Roboter, wie seelenlose Wesen
verhielten sich die Menschen. Ich fühlte mich wie etwas Außenstehendes, etwas
Beobachtendes. Wie entrückt von dieser Realität. Irgendwann kam die Straßenbahnfahrerin und teilte mit, dass es doch noch länger dauert und die Fahrt mit dieser Bahn nicht mehr fortgesetzt werden kann.

Also musste ich nun doch aussteigen, nachdem ich einfach gewartet hatte. Beim Aussteigen konnte ich der Straßenbahnfahrerin nur ein paar Worte des Mitgefühls sagen.

 

Hinterher fragte ich mich, was ich hätte besser machen können. Was hätte ich tun können,
trotz das schon alle Hilfe da war, die notwendig war?

Die Lösung, die mir leider zu spät in den Sinn kam, war eigentlich einfach. Ich hätte
aussteigen können um, zum Beispiel mit einer Rettungsplane, das Nummernschild des PKW
oder vielleicht sogar die ganze Front des Autos verhängen können. Um so den Blick der
Menschen auf das Leid zu nehmen. Damit hätte ich wenigstens sekundär der PKW-Fahrerin
Leid ersparen können, da durch die ganzen Fotos, die gemacht wurden, nun das Bild durch
die Medien geht und die Menschen sich das Maul in den sozialen Netzwerken zerreißen
können. Urteile fällen werden, ohne zu wissen was passiert ist. Irgendjemanden, ohne
Wissen über die Fakten, die Schuld geben werden, sei es der Straßenbahnfahrerin oder der
PKW-Fahrerin.

Warum fiel es den Menschen so schwer Empathie zu zeigen? Ist wirklich nur noch so wenig
Menschlichkeit vorhanden? Sind die Menschen durch die Flut an Bildern und Informationen
schon abgestumpft?

 

Doch bin ich mir jetzt in einer Sache noch sicherer:

Das Freimaurertum ist nicht nur ein Weg, es ist eine Notwendigkeit!

Man darf nicht darauf hoffen, dass die Menschen von selbst die Humanität in sich erkennen.
Es braucht Menschen, die mit Beispiel voran gehen. Die ihren Teil dazu beitragen etwas Licht
unter die Menschheit zu bringen und helfen, dass der Tempel der Humanität im Bau
voranschreitet.

So wie ich mich als Mensch nach außen zeige, so werden mir die Menschen begegnen. So
wie ich mich verhalte, kann ich dazu beitragen, dass die Werte der Freimaurer in der
Gesellschaft wurzeln.

In einer Zeit, in der durch Leistungsdruck Erschöpfung herbeigeführt wird; durch mediale
Flut die Köpfe mit Informationen überfüllt werden und dadurch der Überblick verloren geht
und die Wahrnehmung verzerrt wird; durch Vernetzung in den sozialen Netzwerken, die
dafür Sorge trägt, dass Menschen sich mehr über das Internet als persönlich kennen, ist es
wichtig sich zu besinnen und zu reflektieren.

Wenn der Ursprung der Humanität, ja das Wesen dessen, untergeht, durch vermeintlichen
Fortschritt, dann hören wir vielleicht irgendwann auf Mensch zu sein. Dann ist nur mehr eine
Hülle übrig von dem was einst Mensch geheißen.

Fortschritt mag wichtig sein. Aber wenn dadurch die Humanität zwei Schritte zurück geht,
dann sollten wir überdenken, ob Fortschritt zu jedem Preis sein muss. Wer kennt denn noch seinen Nachbarn persönlich? Wir wohnen in Städten und sind doch allein. Umso mehr Menschen zusammen sind, desto anonymer scheint es zu werden.

Wer spricht noch mit fremden Menschen in einem Café oder an der Haltestelle? Wer grüßt
noch Menschen, die er jeden Morgen im Bus sieht?

Menschlichkeit ist schon in kleinen Dingen erkennbar wie in einem Lächeln, den Vortritt bei
einer Tür lassen und vielen anderen kleinen Dingen.

Wenn schon diese kleinen Dinge verschwinden, wie sollen dann die Großen bewältigt werden, bei denen es umso mehr auf Humanität und Mitgefühl ankommt?

Wir dürfen nicht zulassen, dass wir abstumpfen und unfähig werden das Leid von Anderen
zu erkennen, ja es auch mitfühlen zu können. So wie bei dem Unfall die Beteiligten
entmenschlicht wurden, durch ausdruckslose Gesichter, die kaltherzig Bilder machten, statt
den Beteiligten das Gesicht zu wahren.

Es darf nicht zur Normalität werden, dass der Mensch dem Menschen kein Mensch mehr ist!

Empathie heißt hinschauen und nicht dem Elend den Rücken zukehren. Es bedeutet die
Hand zur Hilfe zu reichen und wenn das nicht möglich ist, dann wenigstens den Anstand zu
besitzen Menschen auch als solche zu behandeln und erkennen zu lassen, dass man selber
auch ein Mensch ist.

 

Mögen die Menschen das Licht in sich erkennen und es wachsen lassen.

Mögen sie es auch anderen Menschen bringen, die Licht benötigen in dunkler Stunde.

Für mehr Menschlichkeit, für mehr Liebe unter den Menschen.

 

von A.S.